Mit dem IT-Sicherheitsgesetz (ITSiG) werden vom Gesetzgeber Mindeststandards für die IT-Sicherheit von Betreibern besonders gefährdeter Infrastrukturen gefordert. Doch kann Sicherheit angeordnet werden? Welche technischen Herausforderungen stehen betroffenen Unternehmen ins Haus?
Das Grundschutzhandbuch des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) wurde 1995 veröffentlicht und ist inzwischen 20 Jahre alt. 20 Jahre, in denen sich die Leistung von IT-Systemen rasant weiterentwickelt hat. Doch haben sich die IT-Sicherheitsorganisationen und Managementsysteme in dieser Zeit gleichermaßen entwickelt? Die Frage darf klar verneint werden.
Der Staat greift nun regulativ ein und für einige werden Erinnerungen an 1975 wach. „Sicherheit verkauft sich schlecht“ sagte VW-Chef Kurt Lotz 1970 im Zuge der Diskussion um die Anschnallpflicht. Der Spiegel
titelte in 50/1975 „Gefesselt ans Auto“ und stellte die Frage: „Soll und darf der liberale Staat die Auto-Bürger zum Überleben zwingen?“.
Wie im Straßenverkehr geht es im Cyberraum nicht nur darum, Schaden vom Einzelnen abzuwenden. Es geht um den Schutz der Gemeinschaft, um die negativen Auswirkungen – nicht nur finanzieller Art – auf uns alle zu minimieren. Aufklärung und Werbekampagnen haben in den frühen siebziger Jahren keine nennenswerten Erfolge beim Verhalten deutscher Autofahrer gebracht. Nur durch die Verpflichtungen für Hersteller, Bußgelder und den dadurch eingetretenen stetigen Prozess der Einsicht, haben wir nach 40 Jahren in Deutschland eine Anschnallquote von über 98 Prozent erreicht.
Der Nutzen des Sicherheitssystems, wenn es richtig konstruiert und angelegt ist, steht beim Gurt außer Frage. Beim Thema „Cyberrisiken“ bedarf es aber scheinbar noch einiger Aufklärung und Darstellungen potentieller Szenarien, um diesen Prozess weiter voranzutreiben.
Als Artikelgesetz beinhaltet das ITSiG eine Reihe anderer Gesetze und Vorschriften. Auch wenn es primär als Gesetz für die Betreiber kritischer Infrastrukturen (KRITIS) gedacht war, ist davon auszugehen, dass auch Zulieferer, Dienstleister oder Kooperationspartner solcher Betreiber mittelbar vom ITSiG betroffen sein werden, sofern ihre Leistungen Einfluss oder Auswirkungen auf die Sicherheit der betrachteten Infrastrukturen haben.
„Stand der Technik“ – ein unbestimmter Rechtsbegriff
Für die direkt betroffenen Unternehmen fordert das ITSiG angemessene organisatorische und technische Maßnahmen unter Einhaltung des „Stands der Technik“. Der „Stand der Technik“ ist dabei keine direkt messbare Größe, sondern ein Grundsatz für die Festlegung von Maßnahmen und die branchenspezifische Präzisierung von Anforderungen.
Was genau das für das einzelne Unternehmen bedeutet, ob und inwieweit je nach Unternehmensgröße unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden können oder müssen, ist derzeit ungeklärt und sorgt weiterhin für Unsicherheit bei der Umsetzung. Am Ende wird es klare Definitionen geben müssen oder Sachverständige werden aufgefordert, im Einzelfall zu prüfen, ob die Maßgaben des Gesetzes eingehalten wurden.
Das BSI stellt fest, dass es nicht möglich ist, den „Stand der Technik“ allgemeingültig und abschließend zu beschreiben. Er lasse sich jedoch „anhand existierender nationaler oder internationaler Standards wie DIN oder ISO-Standards oder anhand erfolgreich in der Praxis erprobter Vorbilder für den jeweiligen Bereich ermitteln“. Für die vom ITSiG direkt und indirekt betroffenen Unternehmen bedeutet dies, dass eine Vielzahl von allgemeinen und branchenspezifischen Normen und Standards einzuhalten, geprüft und ggf. zertifiziert werden müssen.
Die branchenspezifischen Mindeststandards für die Informationssicherheit werden dabei flankiert durch die Anforderungen an ein Managementsystem für Informationssicherheit (ISMS) sowie einer Meldepflicht für Unternehmen gegenüber Kunden und dem BSI. Um im Rahmen der regelmäßigen Nachweispflicht festzustellen, ob und inwieweit der „Stand der Technik“ eingehalten wurde, bedarf es einer fachlichen sowie branchenbezogenen Interpretation der umgesetzten Maßnahmen.
Die IT-Sicherheitsbranche in der Pflicht
Für Unternehmen ist eine konkrete, wenn auch nicht abschließend beschriebene Umsetzung erforderlich und es muss einer kontinuierlichen Fortentwicklung der Systeme Rechnung getragen werden. Insbesondere Betreiber kritischer Infrastrukturen müssen dem BSI alle zwei Jahre nachweisen, dass die Anforderungen an die organisatorischen und technischen Maßnahmen eingehalten werden.
Es wird die Aufgabe der Unternehmen, der fachlichen Gremien, Branchen- und Wirtschaftsverbände sowie unabhängiger Experten sein, konkrete, objektive und vergleichbare Anforderungen festzulegen und Handlungsempfehlungen abzugeben. Die Ergebnisse müssen es ermöglichen, dass ein Unternehmen die umgesetzten technischen und organisatorischen Maßnahmen nachvollziehbar darstellen, ein Sachverständiger sie nachvollziehbar prüfen und die Judikative sie bewerten kann.
Kompetenznetzwerke wie der Bundesverband IT-Sicherheit e.V. (TeleTrusT) bieten hierzu Hilfestellungen. So gibt der TeleTrusT-Arbeitskreis zum „Stand der Technik“ Handlungsempfehlungen und Orientierungen für betroffene Wirtschaftskreise: Was gilt jeweils als „Stand der Technik“ in Bezug auf IT-Sicherheit.
Der Ansatz des regulatorischen Eingreifens durch den Gesetzgeber und drohende Bußgelder bei Zuwiderhandlungen lassen einen ersten Vergleich zur Einführung der Gurtpflicht aus 1975 zu. Die Komplexität in der Umsetzung und vor allem der unbestimmte Rechtsbegriff „Stand der Technik“ lassen aber vermuten, dass der Interpretations- und Klärungsbedarf weitreichendere Folgen haben wird. Die öffentliche Diskussion findet derzeit nur verhalten statt, aber das dürfte sich spätestens nach Inkrafttreten der Rechtsverordnungen und der Melde- bzw. Bußgeldvorschriften ändern.
Unternehmensspezifische Lösungen
Im Rahmen der Nachweispflicht ist darzustellen, dass entsprechende Maßnahmen dem „Stand der Technik“ entsprechend geplant und umgesetzt sind. Mit Hinblick auf die zeitlichen Vorgaben verspricht eine inkrementelle und iterative Strategie Vorteile bei der notwendigen Überprüfung, ohne den laufenden Betrieb überproportional zu belasten.
Eine Priorisierung der Systeme und ihrer Sicherheitsmaßnahmen sollte nach Wichtigkeit und Wirkung erfolgen. Dabei sind Systeme und Maßnahmen mit besonderer Bedeutung für die Aufrechterhaltung der angebotenen Leistung vorrangig zu betrachten. Ein besonderes Augenmerk ist hierbei auf die systemübergreifenden Effekte und Einflüsse zu legen.
Für Unternehmen kann und muss daher eine individuelle Betrachtung der Angemessenheit und Wirtschaftlichkeit erfolgen und nachvollziehbar dokumentiert werden. So ist es einem Auditor später möglich zu bewerten, ob der „Stand der Technik“ eingehalten wurde und die Maßnahmen geeignet sind, die Sicherheitsziele und -anforderungen zu erreichen.
Ein ISMS liefert dabei den Rahmen für eine konsequente Umsetzung der Sicherheitsstrategie. Im Fall eines Sicherheitsvorfalls ist aber zu erwarten, dass die technische Umsetzung – die bei ISO/IEC 27001 nicht definiert ist – ausschlaggebend für eine Bewertung sein wird, ob und/oder in welchem Umfang die regulatorischen Anforderungen umgesetzt wurden.
Spätestens mit der Veröffentlichung der Rechtsverordnung im ersten Quartal 2016 gilt daher für die betroffenen Unternehmen, dass die Anforderungen an den „Stand der Technik“ für die eigene IT-Infrastruktur durch einen unabhängigen Dritten festgestellt werden sollte. Anschließend kann die Sicherheit umfassend geplant, dokumentiert und entschlossen vorangetrieben werden. So lässt die Analogie des ITSiG zur Gurtpflicht hoffen, dass wir auch im Bereich der Informationssicherheit in einigen Jahren eine hohe Akzeptanz der Notwendigkeit und des Nutzens von Sicherheitssystemen erreicht haben.
(c)2015 Vogel Business Media
Sie müssen den Inhalt von reCAPTCHA laden, um das Formular abzuschicken. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten mit Drittanbietern ausgetauscht werden.
Mehr Informationen